ZEITmagazin: Wie sollten »die da oben« eingreifen?
Chipperfield: Der öffentliche Sektor muss fördern und belohnen. In meiner Heimat Großbritannien aber zum Beispiel gilt eine Verwaltung als regelrecht verantwortungslos, wenn sie ihr Land nicht wie ein Investor bebaut und den Gewinn maximiert, sondern Sozialwohnungen schafft.
ZEITmagazin: Glauben Sie, dass es deutschen Städten wie Berlin bald ähnlich gehen wird wie britischen?
Chipperfield: Ja. Für arme Verwaltungen ist es schwer, dem Geld zu widerstehen. Der Grundstückswert macht die Stadt reicher, aber viele, die darin wohnen, ärmer. Das ist das Paradox unserer Zeit. Der Moment, in dem wir die Stadtplanung auf ein Minimum reduziert haben, ist der Moment, in dem wir sie am dringendsten brauchen.
ZEITmagazin: In Deutschland fehlen mehr als eine halbe Million Wohnungen. Viele befürchten, dass strengere Bauvorschriften dazu führen, dass noch weniger gebaut wird. Was sagen Sie dazu?
Chipperfield: Diese Sorge ist verständlich. Aber ich glaube nicht, dass Vorschriften das Hauptproblem sind. Wir haben drei Akteure: die Regierung, die Industrie und die Gesellschaft. Wenn Letztere den Wohnraum zur Priorität erklären würde, ließe sich das Problem lösen. Schauen Sie sich die deutschen Autos an: Die sind nicht deshalb so hochwertig, weil es anderswo keine guten Ingenieure gibt, sondern weil deutsche Kunden ein Auto mit schweren Türen wollen. Sie sollen nach Qualität klingen, wenn man sie zuschmeißt.
ZEITmagazin: Lässt sich das auf den Wohnungsmarkt übertragen?
Chipperfield: Wenn Käufer sagen: »Ich will keine Wohnung in einem Gebäude ohne nachhaltige Standards« – oder umgekehrt: »Ich will dieses Haus, weil es Wasser recycelt« – dann übt das Druck auf die Branche aus. Wandel passiert nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch den Anspruch der Menschen. Ein Beispiel dafür ist das Neue Museum in Berlin. Als ich mit der Sanierung beauftragt wurde, war es anfangs ein Kampf: Die Stadt wollte dieses, die Kuratoren wollten jenes. Aber alle hatten den Anspruch, die Ruine und damit ihre Vergangenheit zu schützen. Das Museum wurde ja im Zweiten Weltkrieg zerbombt.
ZEITmagazin: Einige plädierten dafür, das Gebäude völlig abzureißen – aus Kostengründen.
Chipperfield: Ja, aber man geht ja auch nicht nach Pompeji und sagt: »Lasst uns das reparieren«. Also entschieden wir uns dafür, das Gebäude als archäologische Stätte zu behandeln – zu sanieren, aber seine Narben zu erhalten. Die deutsche Mentalität und ihr Anspruch auf Gedenken schützten das alte Mauerwerk.
ZEITmagazin: Sie sind in London geboren, später zogen Ihre Eltern mit Ihnen auf einen Bauernhof. Wären Sie heute ein anderer Mensch, wäre Ihre Umgebung damals eine andere gewesen?
Chipperfield: Auf dem Bauernhof hatte ich nie das Gefühl, überflüssig zu sein. Mit sieben oder acht Jahren ließ ich morgens die Kühe aus dem Stall und hielt sie davon ab, in die falsche Richtung zu laufen. Noch heute fühle ich den Ort: den roten Lehmboden, die Erdhügel nach dem Pflügen. Ein totes Tier auf der Weide riecht man, lange bevor man es sieht. Auch Architektur ist sinnlich: Materialien, Texturen. Vielleicht habe ich das da gelernt.
ZEITmagazin: Was hat Sie am meisten geprägt?
Chipperfield: Das Gefühl damals, dass sich die Welt öffnet.
ZEITmagazin: Wie meinen Sie das?
Chipperfield: Als ich Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre in London studierte, war die Stadt ein leeres Blatt. Es gab kaum Design, kaum Restaurants. Alle waren arm, aber London war voller Lücken und Freiräume. Das Berlin von vor 20 Jahren erinnerte mich daran. Heute ist das anders, und das empfinden viele als enttäuschend.
ZEITmagazin: Was daran genau?
Chipperfield: Junge Leute wachsen nicht mehr mit dem Gefühl auf, dass Dinge besser werden. Diejenigen unter ihnen, die glauben, nichts daran ändern zu können, suchen nach Schuldigen. Man spürt das überall.
ZEITmagazin: Sie selbst haben nie so gedacht?
Chipperfield: Mir ist das nie in den Sinn gekommen, nein. Mit 13 schickten mich meine Eltern auf ein Internat. Ich war 13! Natürlich wollte ich nicht dorthin. Und als ich 17 war, wanderten sie ohne mich nach Australien aus. Ich hätte ihnen das vorwerfen können. Aber was bringt das?
ZEITmagazin: Wie ist Ihre Beziehung zu ihnen heute?
Chipperfield: Mein Vater ist letztes Jahr gestorben, meine Mutter lebt noch. Es stimmt schon: Dass sie mich weggeschickt haben, erzeugte eine gewisse Distanz. Und, ja, ich bin ein wenig traurig darüber. Meine Frau stand ihren Eltern sehr nahe, und darauf war ich immer eifersüchtig. Aber ich weiß, dass meine Eltern alles, was sie getan haben, aus den Umständen heraus getan haben. Man kann sich nicht von Unglück ernähren. Ich glaube, die größte Herausforderung heute besteht darin – und das lässt sich auf vieles anwenden –, sich aus der Opferrolle zu befreien. Eine Art Ehrgeiz zu entwickeln, anstatt anderen die Schuld an seinem Leid zu geben. Nicht dass niemand Schuld trägt. Aber sich daran festzukrallen, scheint mir reine Zeitverschwendung zu sein.
ZEITmagazin: Apropos Verantwortung: Was genau bedeutet eigentlich Nachhaltigkeit für Sie?
Chipperfield: Niemand weiß genau, was es wirklich bedeutet, nachhaltig zu bauen – oder was eine gute Lieferkette ausmacht. Oft hört man: »Lasst uns Stein verarbeiten. Der ist nachhaltig.« Doch dann wird der Stein in Italien gewonnen und muss erst einmal durch die halbe Welt geschifft werden. Die gesamte Branche ist nervös, weil ihr Beitrag zum Klimawandel immer stärker in den Fokus rückt. Das Bauwesen ist für knapp 40 Prozent der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich.
ZEITmagazin: Manche sagen, das nachhaltigste Gebäude ist jenes, das nicht gebaut wird.
Chipperfield: Richtig. Eine zweite Möglichkeit ist die Wiederverwendung bestehender Gebäude. Eine dritte: Recycling und die Verwendung von Materialien mit einem geringen CO₂-Fußabdruck.
ZEITmagazin: Beim Bau der Bastian-Galerie in Berlin haben Sie Ziegelsteine aus einer alten Kaserne in Brandenburg verwendet. Macht das wirklich einen Unterschied?
Chipperfield: Ehrlich gesagt: kaum. Die Entscheidung hatte damals auch weniger mit Nachhaltigkeit zu tun als mit Berliner Identität. Kann eine einzelne Entscheidung – etwa für Holzfensterrahmen – etwas bewirken? Nicht in großem Maße. Aber wenn jeder sagt, »mein Beitrag zählt nicht«, passiert halt gar nichts.
ZEITmagazin: Sie restaurieren längst nicht nur historische Gebäude, sondern planen auch Wolkenkratzer wie den Elbtower. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welche Aufträge Ihr Büro annimmt?
Chipperfield: Ehrlich gesagt, es ist verdammt unangenehm. In dieser Zeit als Architekten zu arbeiten, fühlt sich an, als würden wir mit voller Geschwindigkeit auf der Autobahn fahren, dabei versuchen, die Räder zu wechseln und dann auch noch das Steuer herumzureißen. Eigentlich müssten wir anhalten, tief durchatmen und fragen: Was macht eine gute Gesellschaft aus?
ZEITmagazin: Ihre Antwort?
Chipperfield: Bezahlbare Wohnungen, gute Schulen, öffentliche Plätze und eine soziale Infrastruktur. Aber werden auf dem Investmentmarkt Wohnungen gebaut? Nein. Schulen? Nein. Öffentliche Plätze? Nein. Teure Gebäude für reiche Leute? Ja. Sorry – ich baue sie ja auch. Ich baue Wohnungen in Miami. Ich baue Hotels in Hamburg.
ZEITmagazin: Haben Sie jemals zu rein kommerziellen Projekten Nein gesagt?
Chipperfield: Ja, natürlich.
ZEITmagazin: Können Sie ein Beispiel nennen?
Chipperfield: Ich befürchte nein, ich will niemanden vergraulen. Als Architekturbüro befinden wir uns in einer heuchlerischen Position: Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, und doch tun wir es nicht.
ZEITmagazin: Weil es Ihr Büro dann bald nicht mehr gäbe?
Chipperfield: Ja, wir können nicht einfach sagen: »Stopp, wir machen jetzt nur noch nachhaltige Projekte.« Dafür fehlen die Kunden. Unser Büro hat 300 Mitarbeiter.