Architekt David Chipperfield erklärt, ob schöne Häuser uns zu besseren Menschen machen. Ein Interview mit Sven Michaelsen.
Süddeutsche Zeitung-Magazin. Menschen, die meinen, Sie zu kennen, sagen, die entscheidende Figur Ihres Lebens sei Ihre Frau Evelyn Stern, eine deutschstämmige Jüdin.
David Chipperfield. Evelyns Familie floh vor den Nazis nach Argentinien. Als Evelyn 14 war, sagte ihr Großvater, er wolle zurück nach Hause. Mit zu Hause meinte er Köln. Die Familie entgegnete, das Köln, das er kenne, gebe es wegen des Bombenkrieges nicht mehr, und von seinem Stammtisch sei dank Hitler niemand mehr am Leben. Der Großvater aber blieb stur. So kam Evelyn mit 14 nach Köln, ohne Deutsch zu können. Nach ihrem Einser-Abitur studierte sie in Frankfurt, New York und London Germanistik. Wir lernten uns kennen, als sie in London für das Kunstmagazin FMR arbeitete.
SZ. Wie hat Ihre Frau Sie verändert?
DC. Der bedingungslose Zusammenhalt einer jüdischen Familie war Neuland für mich. Man ist zwar regelrecht aufgefordert, sich nach Lust und Laune zu streiten, aber diese ständigen Reibereien beschädigen nicht das Gefühl der Zugehörigkeit und des Sich-aufeinander-verlassen-Könnens. Es ist ein bisschen wie bei einem Naturvolk: Egal wie alt du schon bist, du bleibst an deinen Stamm gebunden bis ans Ende aller Tage. In dieser Atmosphäre habe ich unter Evelyns sanftem Druck gelernt, dass es notwendig ist, Probleme selbst anzusprechen. Das war nicht einfach für einen verschlossenen und eher wortkargen angelsächsischen Mann. Unser sehr englischer Familienarzt sagt heute über uns, wir würden hyperkommunizieren.
SZ. Ihre Eltern gehörten zur Arbeiterklasse und wurden später Landwirte. Mochten Sie das Landleben?
DC. Mein Vater verließ mit 14 die Schule und wurde wie sein Vater Polsterer. Als ich vier war, zogen wir von London auf einen abgelegenen Bauernhof in der Grafschaft Devon im Südwesten Englands. Auf eigene Faust als Landwirt zwischen Kühen und Hühnern zu leben war der Lebenstraum meines Vaters. Mich machte die Isolation zu einem schüchternen und gehemmten Jungen, der kaum Freunde hatte.
SZ. Warum kamen Sie mit 14 auf ein Internat?
DC. Mein Vater wollte seinen Kindern die Bildung ermöglichen, die ihm versagt geblieben war. Da die Schulen in unserer Umgebung keinen guten Ruf hatten, schickte er uns unter großen finanziellen Opfern auf ein Internat in Somerset. Ich lernte schnell, dass Internate eine geschlossene Welt sind, in der es grausam zugehen kann. Eine fundamentale Regel hieß: Wenn du nicht zum Eckensteher werden willst, der von allen gepiesackt wird, musst du dich mit irgendetwas hervortun. Da ich im Unterricht keine guten Noten bekam, entschied ich mich für den Sportplatz. Ich wollte zum besten Läufer der Schule werden.
SZ. Wurden Sie es?
DC. Ich bin nicht zum Läufer geboren, aber ich trainierte härter als jeder andere. Da man nach dem Unterricht nicht nach Hause geht, sind die Tage in einem Internat endlos. Ich hatte also jeden Tag vier, fünf Stunden Zeit, mich zu quälen. Nach einem Jahr war ich der beste Mittelstreckenläufer des Bezirks und Captain des Leichtathletik-Teams. Diese Erfahrung gehört zu den entscheidenden Lektionen meines Lebens: Obwohl dein Talent begrenzt ist, kannst du gewinnen, vorausgesetzt, dein Siegeswille ist stärker als der deiner Konkurrenten. Sport hat mir beigebracht, an mich selbst zu glauben.
SZ. Wann kamen Sie mit Architektur in Berührung?
DC. Als ich 15 war, kaufte mein Vater in unserer Nachbarschaft einen Bauernhof, den er in Ferienwohnungen umwandeln wollte. Wenn ich Sommerferien hatte, half ich ihm. Es hieß dann ziemlich schnell, ich hätte ein Auge für Architektur. Ich konnte mich über dieses Lob nicht freuen, denn ich wollte Tierarzt werden, aber dafür reichten meine Noten nicht.
SZ. Als Sie 18 waren, wanderten Ihre Eltern nach Australien aus.
DC. Sie sagten, es sei mir überlassen, mitzukommen oder zu bleiben. Da ich gerade einen Studienplatz in London bekommen hatte, blieb ich. Seither ist unser Verhältnis distanziert. Mein Vater besucht mich einmal im Jahr für eine Woche.
SZ. Als Sie 1977 Ihr Architekturstudium beendeten, steckte England in einer katastrophalen Rezession.
DC. Als der Käfig aufging, gab es für uns keine Arbeit. Margaret Thatcher hatte den sozialen Wohnungsbau gekillt, und in der Architektur gab Prince Charles den Ton an. Das war ein doppeltes Verhängnis für jeden, der anders bauen wollte.
SZ. Anfang der Achtzigerjahre war Ihr Chef Norman Foster, ein ehemaliger Türsteher, der es zum berühmtesten lebenden Architekten gebracht hat, 1200 Mitarbeiter beschäftigt und seit 1999 den Titel Baron Foster of Thames Bank trägt. Wie war es, für den jungen Foster zu arbeiten?
DC. Norman hatte Anfang der Sechziger dank eines Stipendiums an der Yale School of Architecture in Connecticut studiert. Für ein Arbeiterkind aus Manchester muss das ungeheuer aufregend gewesen sein. Amerika und die amerikanische Architektur waren nie spannender als zu jener Zeit. Norman wurde geprägt durch aufstrebende Weltkonzerne wie IBM, die für den Bau ihrer Gebäude ein Vermögen ausgaben. Mit diesen superglamourösen Ideen im Kopf kam er zurück ins altmodische, provinzielle England, wo Architekten Krawatten trugen und sich mittags zum Lunch in ihrem Club trafen. Architekten glaubten, gesetzte Gentlemen sein zu müssen, aber Norman bewies ihnen, dass es auch ganz anders ging. Seine ostentative Hemdsärmeligkeit war seine Rache an der verzopften englischen Oberschicht. Als ich das erste Mal in sein Londoner Büro kam, betrat ich eine neue Welt. Schon die Luft war anders. Man spürte ein kreatives Vibrieren, als wollte da jemand die Welt aus den Angeln heben und neu zusammensetzen. Mein ältester Sohn arbeitet bei Apple für den Designchef Jonathan Ive. Wenn ich ihn in Cupertino besuche, denke ich, genauso war die Atmosphäre bei Norman Anfang der Achtziger. Man fühlt sich einem elitären Orden zugehörig, den man auch nicht verlässt, wenn man unglücklich ist.
SZ. Wie lange war Foster Ihr Chef?
DC. Nach drei Jahren hatte ich genug gesehen und ging für vier Jahre nach Japan. Von der japanischen Kultur habe ich etwas Entscheidendes gelernt: Sich um die Gestaltung scheinbar belangloser Alltagsgegenstände zu kümmern, intensiviert das Leben. Das Normale wird besonders, wenn man es mit Sorgfalt und Achtsamkeit behandelt. Eine zweite Lektion hieß: Weglassen. Sich um die Bewegung der Luft in einem Raum zu kümmern kann wichtiger sein als die gesamte Inneneinrichtung.
SZ. Nach Ihrer Rückkehr machten Sie im Londoner Vorort Kingston-upon-Thames aus einem hässlichen Fünfzigerjahre-Bau ein minimalistisch-modernistisches Haus für den Fotografen Nick Knight. Die Anwohner liefen Sturm.
DC. Die Proteste gipfelten in einer wutschäumenden Petition an Prince Charles. Moderne Architektur war für diese Menschen ein Anschlag auf ihre heile Vorstadtwelt, in der man sonntags sein Auto wusch und die Rosen im Vorgarten wässerte. Die Frau von gegenüber öffnete ihre Vorhänge ein Jahr lang nicht. Der Bau war für sie ein Frevel, der alles beleidigte, an das sie glaubte. Die Leidenschaft und der Hass schockierten mich, andererseits war ich fasziniert, dass Architektur solche Gefühlsstürme auslösen konnte. Ich fühlte mich wie jemand, der acht Jahre Medizin studiert hat und dann feststellen muss, dass die Menschen Ärzte hassen.
SZ. Dass Sie Anfang der Neunziger in Deutschland Fuß fassten, verdanken Sie einem Kunstberater, der zurzeit wegen Millionenbetruges eine sechsjährige Gefängnisstrafe verbüßt.
DC. Was mit Helge Achenbach geschehen ist, tut mir sehr weh. Ich kann nur Gutes über ihn sagen. Er schlug vor, dass ich für den Maler Jörg Immendorff ein Studio im Düsseldorfer Hafen entwerfe, und als wir gut miteinander auskamen, machte er mich mit dem damaligen Bahn-Chef Heinz Dürr bekannt, der in Berlin ein Haus für seine Familie bauen wollte. So reihte sich ein Projekt ans nächste, aber Helge verlangte nie Geld von mir für seine Vermittlungsdienste. Ich kenne ihn als Zigarre rauchendes und vor Lebensfreude strotzendes Kraftpaket, deshalb fällt es mir schwer, ihn mir als Insassen einer Gefängniszelle vorzustellen.
SZ. Die frühen Theologen meinten, Architektur forme die Menschen nachhaltiger als die Heilige Schrift. Teilen Sie diese Meinung?
DC. Lassen Sie mich statt über Gott lieber über Statistik sprechen. Wir gestalten weltweit die Boutiquen von Valentino. Als wir damit anfingen, erzählten Verkäufer, das Verhalten der Kunden habe sich auffällig verändert. Die Firmenleitung ließ dieses Phänomen untersuchen, und es stellte sich heraus, dass die Verweildauer der Kunden sich verdreifacht hatte. Für mich war daran wichtig, dass Architektur es schaffen kann, das Tempo der Menschen zu verlangsamen.
SZ. Kann uns gute Architektur zu besseren Menschen machen?
DC. Jedes Gebäude suggeriert uns, eine ganz bestimmte Sorte Mensch zu sein. Gelungene Architektur bringt das Beste in uns zum Vorschein: Offenheit, Großzügigkeit, Sanftmut, Ruhe, Harmonie, Freundlichkeit. Umgekehrt kann ein Raum einen Kriechstrom aus Einsamkeit und Sinnlosigkeit in uns erzeugen.
SZ. Leiden Sie körperlich unter schlechter Architektur?
DC. Nicht sehr. Ich finde interessant, wie gut geplante Städte hässliche Architektur wegstecken können. Nehmen Sie Stockholm. Da müssten Sie eine Menge hässlicher Bauten errichten, um das Gesamtbild zu verschandeln. Ich lebe zwei Monate im Jahr hier in meinem Ferienhaus in Galicien. In diesem Fischerdorf gibt es die schlimmste Architektur, die man sich vorstellen kann, brutal pragmatisch und rücksichtslos gegenüber der natürlichen Umgebung. Dennoch strahlen die Häuser eine Art Ehrlichkeit aus. Es gibt nur eins, was mich wirklich aufbringt, und das ist zynische Architektur.
SZ. Was verstehen Sie darunter?
DC. Ein Gebäude ist zynisch, wenn der Architekt seinen ästhetischen Ehrgeiz und die Liebe zu seinem Beruf aufgegeben hat und nur noch an die Profitmaximierung seines Auftraggebers denkt. Nicht schlechter Geschmack ruiniert die Welt, sondern Architekten, die vergessen haben, dass sie als Berufsanfänger die Welt zu einem besseren Ort machen wollten. Ein Gebäude zu entwerfen ist kinderleicht und kostet nicht viel Zeit, eigentlich kann das jeder. Die Herausforderung beginnt, wenn Sie an die Menschen denken, die in diesem Gebäude leben sollen.
SZ. Die meisten Neubauten in den Stadtzentren sehen wie begehbare Anlagedepots aus. Doch statt zu fragen, wer für die Hässlichkeiten verantwortlich ist, reagieren die Menschen mit Apathie und Fatalismus. Wie erklären Sie das?
DC. Die Menschen haben das Gefühl, Architektur sei etwas, was ihnen zustößt, was sie erleiden. Ein vernichtenderes Urteil über unseren Berufsstand kann es nicht geben. Dass die Menschen auf Bausünden so lethargisch reagieren, liegt auch an der Unsichtbarkeit der Verantwortlichen. Vor welcher Investmentbank soll man demonstrieren, wenn wieder einer dieser fratzenhaften Geldtürme entsteht?
SZ. In Ihrer Geburtsstadt London werden in den nächsten Jahren rund 250 neue Hochhäuser entstehen. Gibt es jemanden, der sich um das ästhetische Gesamtbild kümmert?
DC. Nein. Thatcher hat die Stadtplanung zerschlagen. Sie verteufelte es als staatlichen Dirigismus, dass eine Behörde Einfluss auf das Gesicht einer Stadt nimmt. Es gibt deshalb niemanden mehr, der fragt, welchen Nutzen diese Flut neuer Hochhäuser haben soll. Der neue Götze heißt Investition. Investoren scheren sich aber einen Dreck um die Pläne eines Architekten. Er wird zum Komplizen des Kapitals. Es gibt in London Tonnen von Geld, das sich in den Boden bohren will wie ein gefräßiger Wurm, und zeigen Sie mir den Politiker, der den Mut hat zu sagen: Lieber Investor, wir wollen deine vielen Millionen nicht, weil dein Gebäudekomplex so trostlos hässlich ist, dass man lebensmüde wird. London ist dabei, eine Art Shanghai zu werden.
SZ. Sie haben ein Jahrzehnt an der Umgestaltung des Neuen Museums in Berlin gearbeitet. Welche Erfahrung haben Sie mit Berliner Stadtplanern gemacht?
DC. Berlin hat gegenüber London einen gewichtigen Vorteil: Es gibt dort keine chinesischen Milliardäre, die Schlange stehen, um im Stadtzentrum sechzigstöckige Hochhäuser mit ultraluxuriösen Apartments in den Boden zu rammen. Das Problem ist: Berlin betreibt Stadtplanung, hat aber kaum Investoren. In London ist es genau umgekehrt.
SZ. Was, wenn Bauinvestoren Berlin entdecken?
DC. Investoren üben Druck auf Politiker aus, mit dem Ziel, die Stadtplaner zu entmachten. Ich hoffe, die Berliner Politiker werden die Nerven behalten. Paris ist ein interessantes Beispiel, denn dort haben die Politiker die Nerven behalten. Jeder Bauinvestor wird Ihnen sagen, dass Paris der schlimmste Alptraum auf dem Planeten ist. Aus diesem Grund ist Paris immer noch wunderschön. Das Paradoxe ist, dass die Pariser nach London schauen und sagen: Oh Gott, was für eine fantastische Stadt, so viel Energie, so viel Geld, wir wollen das auch!
SZ. Ludwig XIV. brauchte bloß mit der Hand zu winken, um Gebäude wie Legosteine zu verrücken. Bedauern Architekten insgeheim, dass die Tage des Absolutismus vorbei sind?
DC. Es geht nicht darum, Autokraten wie Ludwig XIV. aus dem Grab zu zerren. Die Tragödie ist, dass London gerade zum weltweiten Modellfall wird. Es gibt niemanden, der sagt: Stopp, Leute, bevor wir diese vielen Milliarden verbauen, sollten wir ein paar Stunden darüber diskutieren, wo diese Gebäude entstehen sollen und welche soziale Funktion sie erfüllen müssen! Ich bin kein Feind des Kapitalismus, der die Abschaffung des freien Marktes will, aber der Markt muss sich staatliche Interventionen gefallen lassen. Nur, wo ist die Hand, die hochgeht und das Stoppzeichen gibt? In England hat Thatcher diese Hand aus ideologischen Gründen amputiert. Vielleicht sollte die Welt nach Berlin schauen.
SZ. Reizt es Sie, wie Ihr deutscher Kollege Albert Speer junior Millionenstädte in China am Reißbrett zu entwerfen?
DC. Nein. China öffnet sich dem Westen, und der revanchiert sich, indem er seine schlechtesten Eigenschaften exportiert. Es ist meistens eine Schande, was dort von westlichen Architekten gebaut wird. Schauen Sie sich dagegen die großartigen Bauten in Shanghai an, die im 18. und 19. Jahrhundert von Europäern entworfen wurden. Sie sind im Dialog mit der chinesischen Kultur entstanden. Heute verhalten sich beide Seiten zynisch. Die Politiker in China zeigen kein Interesse an guter Architektur, die chinesi-sche mit westlichen Elementen mischt, und die westlichen Architekten denken vornehmlich an ihr Bankkonto.
SZ. Ihr deutscher Kollege Meinhard von Gerkan liebt es, mit dem Flugzeug in Hamburg, Stuttgart und Berlin-Tegel zu landen, weil er alle drei Flughäfen entworfen hat. Früher winkte er bei der Landung eine Stewardess herbei, deutete aus dem Kabinenfenster und rief: Schauen Sie, das alles habe ich gebaut! Fühlen sich Architekten von Großprojekten als gottgleiche Schöpfer?
DC. Es gibt Kollegen, für die es der ultimative Egotrip ist, vor einem Wolkenkratzer zu stehen, den sie selbst entworfen haben, aber so bin ich nicht. Ich mag keinen Personenkult. Architektur ist für mich eine Kollektivleistung. Das Neue Museum in Berlin ist kein Chipperfield-Bau. Es entstand im Zusammenspiel Dutzender Leute. Ich war der Orchesterleiter, der die Musiker zusammenführte, eine kreative Atmosphäre für sie schuf und dirigierte.
SZ. Als Ihre Pläne für das Neue Museum bekannt wurden, gab es Protestdemonstrationen und Mahnwachen mit Fackeln in der Hand. Ihre Gegner, darunter der Fernsehmoderator Günther Jauch, wollten eine originalgetreue Kopie des Museums von 1855. Wie fühlten Sie sich als Zielscheibe deutscher Wutbürger?
DC. Ich versuche, Menschen für Architektur zu interessieren, deshalb wäre es bigott, mich zu beschweren, wenn sie es tun. Bei den Protesten von Günther Jauch war mir schnell klar, dass er sich nicht richtig informiert hatte. Da seine Stimme aufgrund seiner Popularität Gewicht hat, luden wir ihn ein, sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen. Er änderte seine Meinung sofort. Das Problem ist, dass Boulevardjournalisten dazu tendieren, Proteste heillos zu dramatisieren. Wir bauen zurzeit in der Bell Lane in London ein Haus für die Künstlerin Tracey Emin. Dort machen zwei Dutzend Nachbarn sehr viel Lärm, um den Bau zu verhindern. Glaubt man aber den Medien, kommt es im gesamten Stadtteil zu lautstarken Massenprotesten. Das ruft dann opportunistische Politiker auf den Plan, die sagen, da braut sich was zusammen, wir sollten das Projekt lieber stoppen. Dieselben Politiker haben das Projekt zwei Jahre lang geprüft und grünes Licht gegeben.
SZ. Es ist das Los von Komponisten, dass sie nach einiger Zeit die eigene Musik nicht mehr hören können. Geht Ihnen das ähnlich?
DC. Ja. Ich bin neun Monate lang nicht ins Neue Museum gegangen. Wenn ein Gebäude von mir fertig ist, kann ich es erst einmal nicht mehr sehen, weil mich jeder Stein daran erinnert, dass ich über Jahre mit Haut und Haaren mit diesem Projekt verwachsen war. Kehrt man irgendwann zurück, gibt es einen entscheidenden Moment: Hat der Bau die Einbürgerung geschafft, oder ist er zum Fremdkörper geworden?
SZ. Was meinen Sie mit Einbürgerung?
DC. Es gibt bei Architekten zwei Mentalitäten. Die einen wollen ein Spektakel schaffen und entwerfen einen Solitär, der so fremd in der Umgebung steht wie ein Raumschiff, das gerade gelandet ist. Die anderen wollen ihren Bau auf so selbstverständliche Weise mit der Umgebung verschmelzen, dass er fast unsichtbar wird. Ich mag keine Architektur, die für Tagestouristen entworfen wird, die mit Fotos exzentrischer Bauwerke nach Hause kommen wollen.
SZ. Städte wie Bilbao locken auf diese Weise Millionen Besucher an.
DC. Wir haben uns angewöhnt, Bauten anhand von Fotos zu beurteilen. Das ist eine Perversion, denn wie man sich in einem Gebäude fühlt, sollte mindestens so wichtig sein wie die Hülle eines Gebäudes. Alle Welt bewundert das Guggenheim-Museum in Bilbao, aber wer hat es schon mal betreten und kann sagen, wie gut oder schlecht es sich von innen anfühlt? Fühlt man sich empfangen und berührt oder eingeschüchtert? Bringen die Räume die Kunst zur Geltung oder feiern sie sich selbst? Wie wird das Gebäude in zehn Jahren von außen aussehen? Fragen dieser Art stellt kaum noch jemand.
SZ. Frank Gehry soll die Idee für sein Pariser Museum Fondation Louis Vuitton eingefallen sein, als er wegen einer Gehirnuntersuchung in einem Magnetresonanztomografen lag. Fragt man Rem Koolhaas, wo er seine besten Ideen habe, sagt er, auf dem Sitzplatz A1 in Flugzeugen. Wie ist das bei Ihnen?
DC. Ich verstehe Rem sehr gut. Transit-Situationen nehmen den Druck von einem und machen kreativ. Das Schönste am Fliegen ist, dass man nicht angerufen werden kann. Meine Fantasie funktioniert am besten, wenn ich meinen Terminkalender betrüge und mich für ein, zwei Stunden müßig in ein Café setze. Am produktivsten bin ich aber, wenn ich mit einem großen Team zusammensitze. Für mich sind gute Architekten das Gegenteil von Autorenfilmern, die allein ihre Sicht gelten lassen. Ich sitze nicht nachts mit einer Flasche Whisky am Zeichentisch und stürme am nächsten Tag mit dem Satz ins Büro: Dieser Entwurf ist es!
SZ. Der Autorenfilm wird der Kunst zugerechnet. Möchten Sie als Künstler gesehen werden?
DC. Ein Künstler würde ein Gebäude nach seinen kreativen Visionen bauen und am Ende fragen: Möchte irgendwer dieses Gebäude kaufen? Ein Architekt bekommt einen Auftrag und muss für sein Honorar den Nutzer des Gebäudes zufriedenstellen. Was er am Reißbrett entwirft, ist eine Antwort auf die Bedürfnisse des Bauherren. So kann keine Kunst entstehen. Wer sich selbst verwirklichen will, sollte nicht Architekt werden. Was man von uns lernen kann, ist, Kompromisse zu schließen.
SZ. Sie haben Büros in London, Berlin, Mailand und Shanghai mit zusammen 250 Mitarbeitern und arbeiten derzeit auf vier Kontinenten. Wissen Sie, wie viele Projekte im Jahr über Ihren Schreibtisch gehen?
DC. Hundert? Vielleicht auch nur siebzig oder fünfzig. Genau kann ich das wirklich nicht sagen. Neunzig Prozent meiner Zeit verwende ich auf die zehn Großprojekte, die wir zurzeit umsetzen, von der Neuen Nationalgalerie in Berlin über das Nobelpreis-Zentrum in Stockholm bis zur Erweiterung des New Yorker Metropolitan Museum of Art.
SZ. Das Architekten-Showbiz wird durch die Pimmelfechtereien einiger Superreicher finanziert. Lässt sich der Mode-Milliardär François Pinault ein Museum von Tadao Ando bauen, kontert sein Konkurrent Bernard Arnault mit einem Museum von Frank Gehry. Das lässt den Prada-Boss Patrizio Bertelli nicht ruhen, der daraufhin Rem Koolhaas mit dem Bau eines Museums beauftragt. Begrüßen Sie, dass Architekten Teil der Celebrity-Welt geworden sind?
DC. Nein, denn das Starsystem begünstigt eine Architektur, die sich eitel spreizt wie Pfauenfedern. Viele von uns würden gern Sozialbauwohnungen oder Kantinen entwerfen, aber dafür gibt es keine Aufträge. Von privaten Investoren sollte man keine gesellschaftlichen Ideen erwarten. Ob unsere Baukultur zur Vereinzelung der Menschen führt oder nicht, ist ihnen egal. Es geht allein um Profit.
SZ. Welchen Rat geben Sie jungen Menschen, die sich bei Ihnen bewerben?
DC. Ich erlebe jeden Tag, wie wenig man bei uns in drei Monaten Praktikum lernt. Deshalb interessieren mich keine Bewerbungen, in denen jemand zehn Praktika in bedeutenden Architektenbüros zwischen Rom und Rio de Janeiro auflistet. Ich werde neugierig, wenn jemand schreibt, er sei mit einem selbst gebauten Fahrrad von Belgien nach Indien gefahren. Diesen Kopf will ich kennenlernen, denn Hingabe und Elan imponieren mir. Vielleicht liegt das an meiner Vergangenheit als Läufer.
SZ. Vor fünf Jahren hat Sie Königin Elisabeth II. als Ritter in den Adelsstand erhoben, und es gilt als wahrscheinlich, dass man Sie demnächst mit Lord Chipperfield anzureden hat. Was bedeutet das für einen Engländer?
DC. Als Angehöriger der kreativen Klasse gehört es sich, links und antimonarchisch zu sein, aber meine Eitelkeit war nicht klein genug, um die Ehrung abzulehnen. Die Zeremonie des Ritterschlags fand ich ein klein wenig archaisch. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen viele Künstler sich öffentlich weigerten, die Ehrung anzunehmen. Später stellte sich heraus, dass niemand vorhatte, ihnen die Ehrung zukommen zu lassen. Diese schöne Komödie gibt es leider nicht mehr. Heute wird die Liste mit den vorgeschlagenen Kandidaten veröffentlicht.
SZ. Wegen Ihrer vielen Bauten in Deutschland bespöttelte die Presse Ihres Heimatlandes Sie lange als den »berühmtesten britischen Architekten, den keiner kennt«. Traf Sie das?
DC. Nein. Das ist englischer Humor, und den mag ich.
SZ. Als Ihr Premierminister David Cameron zu einem Staatsbesuch nach Berlin kam, lud Angela Merkel zu einem Essen mit zwölf Gästen, einer davon waren Sie. Stimmt es, dass die Kanzlerin Sie Cameron mit den Worten vorstellte, Sie seien »der berühmteste deutsche Architekt«?
DC. Ja, so war es. Aber ich kannte das schon. Als Horst Köhler Bundespräsident war, stellte er mich Prince Charles mit den Worten vor: »Haben Sie schon unseren berühmten deutschen Architekten David Chipperfield kennengelernt?« Ich könnte mir jetzt einen ironischen Kommentar abringen, aber die Wahrheit ist, dass mich beide Situationen sehr, sehr stolz gemacht haben.
By Sven Michaelsen
Süddeutsche Zeitung-Magazin September 2015