Paul Smith und David Chipperfield kennen und schätzen sich schon seit Jahrzehnten. Für ICON, das Trend- und Lifestylemagazin der Welt am Sonntag, trafen sie sich zu einer Bestandsaufnahme.
Der Mann ist gefragt wie nie und baut, als gäbe es morgen keine Freiflächen mehr. Er hat Büros in London, Berlin, Mailand und Shanghai. Die neuesten Projekte: David Chipperfield entwirft ein Museum am Rande archäologischer Ausgrabungsstätten im Sudan – pro bono versteht sich. Aus New York kam zuletzt der Auftrag, den Südwestflügel des Metropolitan Museum of Art neu zu gestalten, und auch Oberursel im Taunus meldet eine Kooperation. Zusammen mit den deutschen Möbeldesignern e15 entstand unlängst eine Reihe von Holzbänken und Tischen. Keine Frage, auch wer mit Superlativen eher knausert, wird gestehen, dass Chipperfield einer der wenigen lebenden Stararchitekten ist. In Deutschland hat er sich zudem mit dem Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin und der bevorstehenden Sanierung der neuen Nationalgalerie tief in die kulturelle DNA des Landes eingeschrieben. Wie gut, dass sich Paul Smith und David Chipperfield schon seit Jahrzehnten kennen und schätzen und sich deshalb für ICON zu einer Bestandsaufnahme trafen.
Paul Smith: Du hast eine starke Verbindung zu Deutschland. Wie kam die zustande?
David Chipperfield: Mir war schon früh klar, dass ich im Laufe meiner Karriere viel Zeit im Flugzeug verbringen würde. Bis heute ist es für junge Architekten hier bei uns schwierig, mehr zu machen als eine kleine Bar, ein Interieur oder einen Hausanbau. In der Schweiz und in Deutschland bekommen junge Architekten viel mehr Möglichkeiten: Zum Beispiel einen Erweiterungsanbau für die örtliche Bücherei zu entwerfen, die Stadthalle oder ein Schwimmbad zu bauen, weil die öffentliche Hand diese Aufträge ausschreibt. Es ist nicht alles privatisiert. Allerdings war mein erster Auftrag 1994 in Berlin, ein Privathaus zu bauen, und darauf folgte ein Studiobau in Düsseldorf.
PS. Klingt nach einem guten Start.
DC. Ja, aber so richtig ging es erst mit dem Wettbewerb für das Neue Museum los. Mitbewerber waren unter anderem Frank Gehry und Giorgio Grassi, ich war der absolute Außenseiter. Das war 1994 – und der Museumsdirektor wollte, dass Gehry gewinnt, was nicht der Fall war. Wir belegten damals den zweiten Platz. Dann gab es ein langes Hin- und Her und der Wettbewerb wurde schließlich 1997 wiederholt – und wir gewannen! Bis zur Eröffnung im Jahr 2009 folgten dann noch einmal zwölf Jahre Planung und Bau.
PS. Unglaublich.
DC. Es war ein Projekt, das an vielen deutschen Befindlichkeiten rührte. Vermutlich hätten wir viele Probleme vermeiden können, wenn wir das Haus einfach als Kopie wiederaufgebaut hätten. Aber ich bestand auf einer Lösung, in der die Ruine als Teil des Wiederaufbaus sichtbar sein sollte. Dieser Plan wurde äußerst kontrovers besprochen, fiel er doch in eine Zeit, in der die Diskussionen über den Krieg, über Erinnerung und den Blick nach vorne in vollem Gange war. In den 80er-Jahren gab es von Seiten Deutschlands große Anstrengungen, diese Themen irgendwie in Einklang zu bringen – dann fiel die Mauer in Berlin, und alles ging wieder von vorne los. Wir sagen immer, dass jede Stadt ihre Geschichte hat. Aber Berlin hat fast zu viel davon.
PS. Wie erhält man die alten Überreste und schafft es, sie durch moderne Elemente schlüssig zu ergänzen?
DC. Wenn ein Gebäude zum Beispiel über Nacht abbrennt, dann haben die verkohlten Überreste erst einmal keinen eigenen Status. Wenn jedoch ein Gebäude im Krieg zerbombt wurde und dann über 60 Jahre als Ruine dasteht, dann ist die Ruine selbst zum Zeitdokument geworden. Als wir dort hinkamen, wuchsen Bäume im Inneren, es gab teilweise noch Wandbilder, andere Teile fehlten völlig. Es war wirklich ein überwältigender Anblick. Jeder, der diese Ruine betrat, hatte eine Gänsehaut. Manchmal sind Ruinen schöner als Architektur, weil sie auf das Wesentliche reduziert sind. Und dann verputzt man alles und restauriert, und plötzlich ist der Zauber dahin. Deshalb war meine Herangehensweise, sich dem Gebäude zu nähern wie einem archäologischen Objekt, beispielsweise eine beschädigte altgriechische Vase oder eine römische Statue, bei denen Teile fehlten. Die würde man auch nicht einfach erneuern und so tun, als sei das Objekt schon immer so gewesen. Man würde es vielleicht vervollständigen wollen, aber dabei würde man genau kennzeichnen, was man erneuert hat und was ursprünglich vorhanden war.
PS. Ich finde es interessant, dass du sehr viele Neubauten realisiert hast, dann aber sehr bekannt dafür wurdest, dass du Projekte verwirklicht hast, in denen sich Altes und Neues verbindet.
DC. Es gab Demonstrationen, es gab Unterschriftensammlungen für ein Volksbegehren – ganz Deutschland wurde in diese Debatte hineingezogen. Und als das Museum dann eröffnete, waren alle mit dem sichtbaren, fassbaren Ergebnis glücklich. Der Streit löste sich in Luft auf. Angela Merkel eröffnete das Gebäude und war begeistert. Und so wurde es eine Art architektonisches Symbol dafür, wie sich Geschichte in Architektur einbeziehen lässt.
PS. Wie waren die Reaktionen der Besucher?
DC. Die Leute begaben sich teilweise auf Hände und Knie, um sich die Sachen genau anzusehen, sie anzufassen. Es war herzerwärmend, ihre Zärtlichkeit gegenüber den greifbaren Objekten zu sehen. Skeptiker behaupten, dass heute keiner mehr echte Qualität zu schätzen weiß, dass niemand sagen kann, ob ein Fisch auf dem Markt wirklich frisch ist und dass keiner gutes Material erkennt. Aber Tatsache ist, dass die Menschen sehr wohl Qualität erkennen.
PS. Mit das Schwierigste bei der Architektur – und das gilt sogar für die Innenraumgestaltung, auch wenn ich die beiden nicht miteinander vergleichen möchte – ist, dass der Auftraggeber sich das fertige Objekt vorher nicht vorstellen kann, oder?
DC. Ich muss sagen, dass es in Deutschland ein besonderes Arbeitsklima gibt, weil man dort über Ideen und Konzepte diskutiert. Das war auch eine der erstaunlichsten Erfahrungen: eine Gruppe von Menschen anzuleiten, die sich über Konzepte streitet, aber dabei immer über das Projekt spricht. Über Probleme im Projektmanagement mussten wir uns dagegen kaum Sorgen machen.
PS. Ich gehe davon aus, dass die Deutschen in diesen Dingen hervorragend sind.
DC. Na ja, momentan haben sie etwas Probleme: Beim Bau des neuen Berliner Flughafens gibt es enorme Verzögerungen.
PS. Wer ist dafür verantwortlich?
DC. Die Verantwortung wird herumgereicht. Momentan gibt es eine Krise in Berlin. Der Mut scheint sie irgendwie verlassen zu haben – die Staatsoper wird nicht rechtzeitig fertig, der Bau der Landesbibliothek verzögert sich. Es ist also gerade etwas schwierig.
PS. Deine Ausstellung „Sticks and Stones“ in der Neuen Nationalgalerie hingegen war ein riesiger Erfolg.
DC. Dieser Raum ist fantastisch, aber er macht einen auch fertig, denn es ist schwer, dort etwas auszustellen. Ich fühlte mich wirklich unsicher. Eine Art Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie schien mir irgendwie seltsam. Also schlug ich vor, stattdessen etwas über Architektur zu machen. In der Zwischenzeit erhielten wir den Auftrag, das Gebäude zu restaurieren, und so ergab es sich, dass unsere Ausstellung die letzte vor der Schließung sein würde. Die Neue Nationalgalerie ist eines der herausragenden Gebäude in Berlin, es ist in vielerlei Hinsicht Mies van der Rohes bester Bau, er stellt einen Höhepunkt der modernen Architektur dar. Außen- und Innenraum gehen gewissermaßen ineinander über. Und ich dachte mir, dass es eine provokante Aussage wäre, diesen Raum mit Säulen zu füllen – mit so vielen Säulen, wie man gebraucht hätte, wenn er 400 Jahre früher erbaut worden wäre. Das ist für mich ein spannender und ironischer Umgang mit van der Rohe, der es geschafft hatte, all diese Säulen loszuwerden. Und es ist eine räumliche, physische Erfahrung.
PS. Ich fand es toll. Es war optisch sehr eindrucksvoll. Der Raum wirkte wie ein Tempel. Mir war es etwas peinlich, denn es war wie eine Kunstinstallation. Und es ist ein bisschen sonderbar, so etwas als Architekt zu machen. Wir haben es dann damit gerechtfertigt, dass es die Abschlussausstellung war. Und natürlich hat es auch einen doppelten Sinn, denn es sah ein wenig wie ein Holz-Baugerüst aus – und die Restaurierung steht ja bevor.
PS. Inwiefern gehst du anders an ein Projekt heran, wenn du weißt, dass sie nur temporäre Installationen sind?
DC. Ich habe gemerkt, dass es für mich dann schwieriger ist, die Idee zu entwickeln. Paradoxerweise ist unsere Beziehung zum Mies-van-der-Rohe-Bau jetzt sehr viel langfristiger geworden. Wir haben fünf Jahre, um ihn buchstäblich in seine Bestandteile zu zerlegen und dann wieder so zusammenzufügen, als wäre nichts gewesen.
PS. In dem Fall ist es also wirklich eine Restaurierung?
DC. Ja. Ich vergleiche es gerne mit einem alten Mercedes, Baujahr 1968. Wenn man ihn auf der Straße sieht, sagt man: „Wow, sieh nur! Was für ein herrlicher Wagen!“ Bei näherer Betrachtung und wenn man sich reinsetzt, erkennt man dann, dass er völlig verrostet ist und die Sicherheitsgurte nicht mehr funktionieren. Um ihn fit zu machen, muss man sehr, sehr viel tun. Mit der Neuen Nationalgalerie ist es genau so: Wir müssen sie auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, und zwar so, dass sie hinterher besser funktioniert als vorher. Dabei ist jedes einzelne Detail heilig, denn bei Mies van der Rohe dreht sich alles um die Details.
PS. Du sagtest, dass der Raum sehr schwer zu nutzen sei. Wirst du daran etwas ändern können?
DC. Nein, daran können wir nichts ändern. In den vergangenen 47 Jahren haben sich die Menschen jedoch daran gewöhnt, den Bau so zu nutzen, wie er ist. Außerdem reagiert die zeitgenössische Kunst inzwischen stärker auf Räume. Heute arbeiten viele Künstler ganz ohne Wände. Sie machen zum Beispiel Klanginstallationen – Jenny Holzer hatte dort eine großartige Ausstellung. Künstler mögen inzwischen die Vorstellung, auf den Raum zu reagieren, also funktioniert das mittlerweile sehr gut.
PS. Wie siehst du deine eigene Rolle in Deutschland?
DC. Ich bin erst gestern von dort zurückgekommen, und das Interessante ist, dass ich inzwischen stark in diese sehr deutschen Kulturdebatten einbezogen werde. Das gefällt mir. Und ich nehme an, dass ich auch wegen des Neuen Museums heute als eine Art Geschichtsvermittler gelte. Als eingeweihter Außenseiter habe ich diese privilegierte Sonderstellung. Du kennst das ja – es ist vermutlich ähnlich wie bei dir in Japan. Als Ausländer kann man Sachen machen, die sonst wahrscheinlich nicht möglich wären – einfach, weil man von außen kommt.
PS. Ja, das kenne ich. Hier bin ich erfolgreich, aber der Grad an Respekt ist ganz anders in Ländern wie Frankreich, Italien oder Japan.
DC. Weil man hier alles nur als Teil eines Finanzsystems wahrnimmt. Darum gibt es diesen, wie ich finde, furchtbaren Begriff: „creative industries“ (Kultur- und Kreativwirtschaft). Wir müssen diesen Begriff hier verwenden, weil es das einzige Konzept von Kultur ist, das Politiker verstehen. Sie verstehen „Kultur“ nur, wenn man den Begriff so ergänzt, dass er Möglichkeiten zum Geldverdienen suggeriert. Wenn diese Leute also ein Museum in Wakefield bauen, dann deshalb, weil sie den Standort aufwerten wollen. Und ich habe immer gesagt: „Baut nur dann ein Museum in Wakefield, wenn ihr ein Museum in Wakefield haben wollt.“ Andernfalls ist es ein Desaster, denn wen interessiert ein Museum, dass nur zur Aufwertung gebaut wurde? Es wird den Standort schon aufwerten, aber man muss es auch um seiner selbst willen bauen wollen. Andernfalls geht es ein.
PS. Ich finde es spannend, dass du neben all diesen faszinierenden Projekten auch Läden entwirfst.
DC. Nun, das geht auf meine Anfänge zurück. Ich habe damals das allererste Ladengeschäft für Issey Miyake entworfen.
PS. Um die Zeit haben wir uns richtig kennengelernt. Diese Art von Läden waren oft winzig, aber wunderschön.
DC. Der erste, den ich entworfen habe, war in der Sloane Street. Das war sozusagen der Startschuss für meine Karriere, was etwas peinlich ist.
PS. Jeder hat mal irgendwo angefangen! Mein erster Laden war dreieinhalb mal dreieinhalb Meter groß und hatte nur freitags und samstags geöffnet!
DC. Ja, aber das ist trotzdem dein Kerngeschäft. Die Läden – das ist nicht das, was ich eigentlich mache.
PS. Stimmt. Aber dann plötzlich für Valentino zu arbeiten und diese wunderbaren Aufträge für ihn zu machen – wirklich toll.
DC. Ich denke, ich hätte nicht damit weitergemacht, wenn Valentino nicht gewesen wäre – und ich muss sagen, dass Valentino einfach ein super Unternehmen ist; es macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Als ich damals anfing, war Valentino gerade gegangen, und keiner wusste, was nach Valentino aus Valentino werden sollte. Der Umsatz war auch eingebrochen. Und irgendwie ist es mir gelungen, etwas zu entwerfen, das mit dazu beigetragen hat, sich wieder zu festigen und klar zu werden. Das war noch bevor Pierpaolo und Maria Grazia mit einstiegen. Aber nachdem sie dabei waren, wurde es noch besser. Und es ist einfach toll, mit ihnen zu arbeiten.
PS. Bei Harrods verwendest du ziemlich harte Oberflächen für die Valentino-Einrichtung.
DC. Und sie werden immer härter, denn Valentino treibt uns immer mehr dorthin. Sie werden immer monumentaler. Interessant ist, dass es für sie inzwischen zu einer Art Markenidentität geworden ist, das Strenge, Enthaltsame. Anfangs wollten sie nämlich mehr Ornamentik.
PS. Na, zum Glück ist ihre Mode ziemlich ornamental, das passt also.
DC. Ja, es funktioniert richtig gut – die Kleidung als Kontrast zu der Strenge.
PS. Was reizt dich sonst an den Laden- und Interieurprojekten?
DC. Manchmal arbeiten wir fünf Jahre an etwas, und es bewegt sich nichts vorwärts. Eine Ladeneinrichtung ist dann eine willkommene Abwechslung, denn sie wird in sechs oder neun Monaten verwirklicht. Außerdem kann ich an diesen Projekten ganz direkt arbeiten. Teilweise entwerfe ich jedes Möbelstück und jedes Hängesystem selbst. Als Architekt mit 200 Mitarbeitern habe ich heute sonst nicht mehr die Chance, so etwas zu tun.