Unter dem unverwüstlichen Dach der Halle zerlegen David Chipperfield Architects die Nationalgalerie in viele tausend Einzelteile, um sie nach Abschluss der Rohbaumaßnahmen und nach der Erneuerung der Haustechnik wieder einzufügen
Vor zwei Jahren baute David Chipperfield Architects in der Neuen Nationalgalerie eine Installation aus entrindeten Baumstämmen auf. Sie bedeutete dem Büro viel, denn es hatte sich eine enge Bindung zum „Tempel der Moderne“ entwickelt. Chipperfields „Säulenhalle“ aus 143 Fichten von der Ostseeküste wurde im strengen Raster raumhoch eingefügt. Durch das Holz entfaltete sich eine ganz andere, im Kontrast zum dunklen Stahldach naturverbundene Wirkung. Der Titel „Sticks and Stones“, ein englischer Kinderreim, bezog sich auf die Stämme und auf die Bodenplatten, auf denen sie standen. Bei Dunkelheit erstrahlte der „Wald“ im „Glashaus“ und lockte ein letztes Mal alle Aufmerksamkeit auf das Spätwerk von Mies van der Rohe.
Nach dieser letzten Installation und einem Konzert von Kraftwerk wurde das Haus im Januar 2015 geschlossen und geräumt. Sämtliche Kunstwerke der Sammlung in den Ausstellungs- und Depoträumen im Untergeschoss befinden sich nun in Außendepots. Zudem wurden die Verwaltungsräume in den Hamburger Bahnhof verlagert und die originalen Ausstattungselemente bis zu ihrer künftigen Restaurierung magaziniert. Auch die großen Skulpturen auf den Außenterrassen wurden abgebaut. Der Aus- und Umzug zog sich über gut ein Jahr hin.
Der Grund für Schließung und Räumung: Das 1968 eröffnete Haus ist marode und die Haustechnik am Ende ihrer Lebenszeit. Schon seit langer Zeit ist dies bekannt, schon lange wird die denkmalgerechte Grundinstandsetzung diskutiert. Nach einem zweistufigen VOF-Verfahren mit 24 Teilnehmern erhielt David Chipperfield Architects hierfür den Auftrag. Die Installation „Sticks and Stones“ war somit der Auftakt besonderer Art für eine neue Lebensphase des Hauses. Sie sollte aber nicht symbolisieren, dass das Kassettendach von Mies van der Rohe nun zusätzlichen Halt brauche. Das 65 x 65 Meter große Dach ist auch nach 48 Jahren stabil.
„Man wird uns nicht sehen“
Martin Reichert, der für das Projekt verantwortliche Partner, macht in unserem Gespräch gleich zu Beginn deutlich, dass Ergänzungen mit eigener Handschrift so weit als immer möglich vermieden werden sollen. Leitbild der Baumaßnahme sei der „unsichtbare Architekt“ und ihr Ziel eine Instandsetzung und Modernisierung mit maximalem Substanzerhalt und minimaler visueller Beeinträchtigung des Denkmals. Es ist aber unumgänglich, nahezu den gesamten Ausbau der Nationalgalerie zu demontieren. Die weit über 10.000 Bauteile werden mit Identifikations-Marken versehen, in Demontageplänen eingetragen und in einer Datenbank verwaltet.
Die technische Sanierung der Fassade ist die komplexeste Aufgabe innerhalb der Baumaßnahme. Die Stahl-Glas-Konstruktion hat zwei Geburtsfehler: Glasbruch und starker Kondensat-Anfall. Die von Mies geplante Fassade besteht aus großformatigen Mono-Gussglasscheiben und einer schlossermäßigen Pfosten-Riegel-Konstruktion aus scharfkantigen, thermisch nicht getrennten Vollprofilen. Bereits zum Zeitpunkt der Erbauung entsprach diese Konstruktion nicht mehr dem damaligen „Stand der Technik“, wurde aber von Mies aus gestalterischen Gründen so gewollt und durchgesetzt. Seine gleichzeitigen Bauten in den USA haben bereits Isolierglasscheiben und thermisch getrennte Profile. Seit 1970 werden wieder und wieder gebrochene Scheiben im laufenden Betrieb ersetzt, sodass heute nur noch vereinzelte originale Scheiben erhalten sind. Die erste Analyse der Ursachen des Glasbruchs ergab ein komplexes Geflecht von Faktoren: Korrosion im Bereich der Glashalteleisten, statisch unterdimensionierte Oberscheiben sowie erhebliche Verformungen durch Temperaturdehnungen sowie Schnee- und Windlasten. Die Bewegung ist im Bereich der oberen Halterung durch die Schwert-Scheide-Konstruktion behindert, horizontal fehlt eine planerische Berücksichtigung der Bewegungen gänzlich. Eine mehrmonatige Messung lieferte ein objektives Bild der tatsächlichen, sehr erheblichen Verformungen.
Die Maßnahmen für die Fassade bestehen aus dem Ersatz der Glasscheiben durch ein Verbundsicherheitsglas und eine Falzraumentwässerung. Zusätzlich werden je Fassadenabschnitt Bewegungsfugen neu eingeführt. Die Oberscheiben werden künftig wieder die originalen Abmessungen haben. Sie konnten seit vielen Jahren mangels geeigneter Produktionsmöglichkeit nur noch durch geteilte Scheiben ersetzt werden. Durch eine „Zustimmung im Einzelfall“ wird es möglich, überbreite Glasscheiben aus China, trotz fehlender Zulassung, einzubauen. Auch alle Granit-Bodenplatten in der Glashalle werden, demontiert und nach der Installation der neuen Flächenheizung und -kühlung wieder eingebaut.
Martin Reichert betont die Janusköpfigkeit der Neuen Nationalgalerie. Auf der einen Seite stehen die „Klassizität“ des Grundmotivs der „Tempelhalle auf einem Podium“, der hohe Abstraktionsgrad des äußeren Erscheinungsbildes, das modulare Entwurfsprinzip, der Verzicht auf eine vordergründige Funktionalität bei der Ausstellungshalle und die Verwendung von Granit, Marmor, Stahl, Bronze und Edelhölzern. Auf der anderen Seite steht das „Zeitgebundene“ wie etwa die Moduldecken, die Beleuchtung der Ausstellung mit Downlights, die Raufasertapete, die Vorhänge und der Spannteppichboden in den Ausstellungsräumen des Sockelgeschosses.
Mies sah das Universale, hatte den großen Überblick, doch im Kleinen war er gezwungen pragmatisch nach Lösungen zu suchen. Die Unterdecken der Ausstellungsräume etwa wurden aus Kanthölzern und Spanplatten „zusammengezimmert“ und lackiert. Bei ausstellungsbedingten Veränderungen mussten die Platten mühsam abgeschraubt werden. Die in den USA bereits übliche Vorfertigung war im Nachkriegsdeutschland technisch kaum möglich. So wurde bei der Unterdecke nur die Illusion vermittelt, es handele sich um ein vorgefertigtes standardisiertes Industrieprodukt. Diese Unterdecke wird nun entfernt und entsprechend der alten Gestalt mit neuer, leicht handbarer Ausführung nachempfunden. Die Einbauleuchten der sechziger Jahre werden auf LED umgerüstet und durch Spots ergänzt. Beim Teppich wechselt man vom Polyamid wieder zur Schurwolle im traditionellen Salz-Pfeffer-Muster. Steckdosen und Lichtschalter werden ebenfalls nach den Vorbildern rekonstruiert.
Bei der Raumorganisation wird es kaum Veränderungen geben. Ein früheres Kunstdepot wird zum Buchladen, ein weiteres zur Garderobe. Allein dort wird es Chipperfield möglich sein in Materialkontinuität zu Mies zwei neue Räume gestalten zu können. Neue Depotflächen entstehen unter der Terrasse am Besuchereingang.
Die Wiedereröffnung ist 2020 vorgesehen. Die Kosten liegen bei 101 Millionen Euro plus circa
9 Millionen für die Ersteinrichtung. Die unterirdische Anbindung an den nördlich geplanten Museumsneubau von Herzog & de Meuron wird frühestens ab 2026 möglich sein, da eine Starkstromleitung unter der Sigismundstraße verläuft, die verlegt werden muss.
Reichert ist es wichtig, dass die Nationalgalerie auch nach der Anbindung an den Neubau nebenan ein vollwertiges Museum bleibt, das autonom funktioniert. Alles andere wäre für diesen so bedeutenden Solitär der Architekturgeschichte ein falsches Konzept.